Bis zum Jahr 2016, so urteilte Indiens Oberster Gerichtshof im Dezember 2002, müsse die Regierung ihrer in der Verfassung niedergelegten Verpflichtung nachkommen, für alle BürgerInnen die Versorgung mit sauberem Wasser sicherzustellen. In einem Jahr, in dem weite Teile des Landes unter extremer Dürre gelitten hatten, reagierte die Politik umgehend: Premierminister Atal Behari Vajpayee erklärte die Wasserversorgung zu einem Thema höchster Priorität und verkündete die Umsetzung eines gigantischen Projekts, das durch den Bau von Verbindungen zwischen den größten Flüssen des Landes Wasser vom Norden in trockene Regionen im Süden und Osten umleiten soll.
Das weltweit größte menschengemachte Wasser-Netzwerk soll bei einem auf 112 Mrd. US-Dollar geschätzten Kostenaufwand durch ein insgesamt 12.500 Kilometer langes Labyrinth von 30 Kanälen 37 Flüsse verbinden. Bei seiner Umsetzung würden 300 Staubecken errichtet, voraussichtlich 450.000 Menschen umgesiedelt und 80.000 Hektar Wald überflutet werden. Pro Sekunde sollen bis zu 1.500 Kubikmeter Wasser des Ganges und des Brahmaputra sowie ihrer im Himalaya entspringenden Zuflüsse 17 indische Flüsse wie Godavari, Krishna und Cauvery auffüllen helfen. Mit diesem Wasser, so der ehemalige Umweltminister Suresh Prabhu, Leiter der mit der Umsetzung des Vorhabens beauftragten ExpertInnengruppe, sollen zusätzlich 35 Millionen Hektar Land bewässert und 34 Gigawatt Energie erzeugt werden.
Laut Prabhu sollen die enormen Kosten – die während der Bauzeit 1% des indischen Nationalproduktes verschlingen werden – durch Wassergebühren, internationale Kredite und Beiträge privater Unternehmen aufgebracht werden. In den USA lebende indische Ingenieure, angeführt vom Texaner Sam Kannappan, bemühen sich angeblich darum, George Bush dafür zu gewinnen, die Weltbank zu einer Unterstützung des Plans zu bewegen, für dessen Verwirklichung 14 Jahre veranschlagt sind. Der Bundesstaat Texas hat seine Zusammenarbeit bereits zugesagt.
Alle größeren politischen Parteien und zahlreiche indische WissenschaftlerInnen unterstützen das Projekt, für dessen Umsetzung jetzt, über 20 Jahre nach dem Auftauchen der ersten groben Umrisse dieser Idee, konkrete Pläne ausgearbeitet werden. Im Auftrag der indischen Regierung soll das Indische Technologie-Institut Simulationen der vorgeschlagenen Flussvernetzung erstellen, während Satelliten der indischen Raumforschungsorganisation die Planung von Kanälen und die Auswahl geeigneter Baustellen für Dämme unterstützen sollen.
Monkombu Swaminathan, der Agrarwissenschaftler, der als Vater von Indiens Grüner Revolution gilt, befürwortet das Projekt geradezu enthusiastisch: „Es kann für alle Bundesstaaten eine win-win-Situation mit sich bringen.“
Doch trotz dieser breiten Front an Unterstützern nimmt auch die Opposition gegen das geplante „river-linking“ zu. Das Projekt bedrohe die natürlichen Ökosysteme der Flüsse, argumentiert etwa A. Vaidyanathan vom Institut für Entwicklungsstudien in Madras. Die Regierung sollte besser traditionelle Techniken für das Sammeln von Regenwasser fördern und dazu beitragen, die Effizienz bestehender Bewässerungssysteme zu steigern. Andere Kritiker, wie S. Sharma von der Ökologischen Stiftung in New Delhi, befürchten die Gefährdung traditioneller Wasserrechte durch die Einbeziehung privater Unternehmen ebenso wie weitflächige Überflutungen durch den massiven Eingriff in natürliche Entwässerungssysteme und die Verteilung der Verschmutzung eines Flusses auf das gesamte Flussnetz. Es sei auch unverantwortlich, in einer der seismisch sensibelsten Regionen der Welt einseitig auf Strukturen wie Dämme zu setzen.
Ramaswamy Iyer, der in den 1980er Jahren Indiens Ministerium für Wasserressourcen leitete, nennt das Vorhaben „technische Hybris“ und eine „Fata Morgana“. Die damit verbundenen Kosten und politischen Gegenargumente seien unüberwindbare Hürden. So warnt er etwa vor der Gefahr einer ernsten Konfrontation mit Bangladesch, dessen Wasserversorgung zu einem großen Teil auf die aus Indien kommenden Flüsse Ganges und Brahmaputra angewiesen ist.
Wasser ist zwischen den beiden Ländern seit dem Jahr 1974 ein Streitthema. Damals nahm Indien den am Ganges in Grenznähe gelegenen Staudamm Farakka in Betrieb, durch den in der Trockenzeit Gangeswasser in indische Bewässerungskanäle umgeleitet wird. Angesichts der dadurch vor allem in den Monaten März bis Mai drastisch reduzierten Wasserführung des Ganges in Bangladesch – bei Hochwasser hingegen öffnet Farakka seine Schleusen – drängte dessen Regierung auf ein Abkommen über die Wasseraufteilung mit dem Nachbarland. Es kam zu einigen jeweils fünfjährigen Vereinbarungen, bis 1988 neuerliche Verhandlungen scheiterten. Schließlich wurde 1996 ein Vertrag über die Aufteilung des Gangeswassers mit einer Laufzeit von 30 Jahren abgeschlossen.
Dennoch führt der Ganges in Bangladesch heute während der Trockenzeit weniger Wasser als vor dem Bau des Staudammes. Das hat zur Folge, dass sich die vom Fluss mitgeführten Sedimente vermehrt schon in den Flussarmen des Deltas und nicht in der Bucht von Bengalen ablagern. Der verringerte Süßwasser-Nachschub bringt mit sich, dass Salzwasser landeinwärts vordringen kann. Das geschieht ausgerechnet in der Region der Sunderbans – dem weltweit größten Mangrovenwald –, der Heimat des bengalischen Tigers ebenso wie von 260 Vogelarten. In der nahe gelegenen Stadt Khulna und ihrer Umgebung ist das Brunnenwasser während der Trockenzeit so salzig, dass es weder getrunken noch für die Bewässerung verwendet werden kann. Mit dem Eindringen von Salzwasser verbreitet sich auch eine Planktonart, die Trägerin des Cholera-Bakteriums ist. Dadurch ist es in den letzten Jahren bereits zu ungewöhnlich schweren Cholera-Ausbrüchen gekommen.
Trotz der Erfahrungen mit dem Damm von Farakka und massiven Widerstands der lokalen indischen Bevölkerung scheint Indien entschlossen, ein vergleichbares Projekt in Angriff zu nehmen, das im Bundesstaat Assam nahe der Grenze zu Bangladesch gelegene „Hydroelektrische Projekt Tipaimukh“. In einem der aktivsten Erdbebengebiete der Welt soll dabei ein 163 Meter hoher Damm errichtet werden, der Assams Cachar-Ebene vor Überflutungen schützen soll (und gleichzeitig 275,5 km2 Kulturland sowie ein paar Dutzend Dörfer unter Wasser setzen wird).
Dass dieses Projekt sowie der Plan zur Flussvernetzung in Bangladesch mehr als skeptisch aufgenommen werden, ist angesichts der schon bisher katastrophalen Erfahrungen nur zu verständlich. Als Reaktion auf die Erklärung des indischen Präsidenten Abdul Kalam anlässlich des indischen Unabhängigkeitstages Mitte August, in der er die Notwendigkeit des „river-linking“ betonte, äußerte Bangladeschs Regierung ihre Besorgnis angesichts der zu erwartenden ökologischen und wirtschaftlichen Folgen. Das Projekt drohe nicht nur, die Wasserkrise im Land zu verschärfen, sondern könnte sogar weite Regionen Bangladeschs zur Wüste werden lassen. Der Wasserexperte Akhtar Hossain formulierte sogar, das Projekt sei eine „Massenvernichtungswaffe“, während einer seiner Kollegen „schwere und nicht endende Naturkatastrophen“ auf sein Land zukommen sieht.
Was Indiens Wasserpläne aus der Sicht Bangladeschs jedoch besonders bedrohlich erscheinen lässt, ist der einigen Experten wie etwa Mostafa Sarwar zufolge erwiesene ursächliche Zusammenhang mit dem Problem der Arsenvergiftung des Trinkwassers, eine Gefahr, der heute bereits 75 Millionen EinwohnerInnen des Landes ausgesetzt sind*. Sie habe mit dem drastischen Abfall des Grundwasserspiegels durch den Staudamm von Farakka sowie mit der Wasserentnahme für Bewässerung zu tun. Dadurch sei – in Jahrmillionen aus dem Himalaja antransportiertes – arsenhältiges Pyrit dem Sauerstoff der in die frei werdenden Poren eindringenden Luft ausgesetzt und dabei Arsen freigesetzt worden, das beim nächsten Hochwasser ins Grundwasser gespült wurde. Die in ihrer Tragweite noch nicht abschätzbare gesundheitliche Katastrophe – Tschernobyl sei im Vergleich dazu harmlos, meint etwa der Harvard-Professor Richard Wilson – droht durch die jüngsten indischen Wasserbauprojekte noch wesentlich schlimmere Ausmaße anzunehmen.
*) 24 Mio. sind heute schon direkt betroffen, 50 Mio. gefährdet.
Zum Problem der Arsenvergiftung des Trinkwassers siehe SWM Nr. 06/2002.